«Um zu verstehen, wie sich der Wärmehaushalt des Klimasystems verändert, muss man vor allem den Ozean verstehen.»
Nachhaltigkeit
Erstmals haben Forschende des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung der Universität Bern mithilfe von antarktischen Eiskerndaten die globale mittlere Ozeantemperatur für ausgewählte Zeitabschnitte der letzten 700'000 Jahre rekonstruiert. Die so gewonnenen Erkenntnisse dienen dem besseren Verständnis des Klimasystems.
Berner Eiskernforschende konnten bereits 2008 nachweisen, wie sich die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre in den vergangen 800'000 Jahren verändert hat. Nun zeigt die Gruppe des Berner Klimaforschers Hubertus Fischer anhand desselben Eisbohrkerns aus der Antarktis, zwischen welchen Maximal- und Minimalwerten die mittlere Ozeantemperatur im Verlauf der vergangenen 700'000 Jahren geschwankt hat. Die Ergebnisse der Rekonstruktion sind im April 2021 in der Fachzeitschrift «Climate of the Past» erschienen. Die wichtigsten Resultate der Studie: Die mittlere Ozeantemperatur war in den letzten sieben Eiszeiten sehr ähnlich und im Mittel rund 3.3 °C kälter als in der vorindustriellen Referenzperiode, wie schon Synthesen von Tiefenwassertemperaturen aus marinen Sedimenten andeuteten. Die Ozeantemperaturen in den Warmzeiten vor 450'000 Jahren waren aber trotz ähnlicher Sonneneinstrahlung deutlich kälter als in unserer heutigen Warmzeit und die CO2-Konzentrationen waren tiefer. Die neuen Messungen zeigen, dass die Temperatur des Ozeans auch durch Änderungen der Ozeanzirkulation geprägt wird. Die sogenannte globale Umwälzung der Tiefenwasser hat einen deutlichen Einfluss auf die Wärmespeicherung im Ozean.
«Um zu verstehen, wie sich der Wärmehaushalt des Klimasystems verändert», sagt Hubertus Fischer, «muss man vor allem den Ozean verstehen.» So werden derzeit 93 Prozent der zusätzlichen Wärme, die der Mensch durch die Erhöhung der Treibhausgase akkumuliert, nicht in der Atmosphäre, sondern im Ozean gespeichert. Das heisst, ohne die Wärmeaufnahme des Ozeans wäre die an Land gemessene Temperaturerhöhung durch den menschgemachten Klimawandel deutlich grösser. Weil die Weltmeere im Vergleich zur Atmosphäre aber über eine riesige Masse verfügen, sind die im Ozean heute gemessenen Temperaturveränderungen allerdings sehr klein.
«93 Prozent der zusätzlichen Wärme, die der Mensch durch die Erhöhung der Treibhausgase akkumuliert, werden nicht in der Atmosphäre, sondern im Ozean gespeichert. Ohne die Wärmeaufnahme des Ozeans wäre die an Land gemessene Temperaturerhöhung durch den menschgemachten Klimawandel also deutlich grösser.»
Wie relevant Daten aus dem Ozean für die Klimaforschung sind, zeigt das internationale Projekt ARGO, ein mobiles Beobachtungssystem für die Weltmeere, mit dem seit dem Jahr 2000 unter anderem kontinuierliche Temperaturmessungen bis in eine Tiefe von 2000 Meter durchgeführt werden. Dazu sind rund 4000 über alle Ozeane verteilte Treibbojen im Einsatz. Umso erstaunlicher erscheint im Vergleich die Vorgehensweise der Berner Forschenden: «Uns genügt für unsere Messung der mittleren Ozeantemperatur eine einzelne polare Eisprobe», erklärt Hubertus Fischer, «wir erreichen natürlich bei weitem nicht die Genauigkeit von ARGO, umgekehrt können wir aber weit zurück in die Vergangenheit schauen.» Untersucht wird nicht etwa gefrorenes Meerwasser, sondern im Gletschereis der Antarktis eingeschlossene Luftblasen. Konkret: die Edelgase Argon, Krypton, Xenon sowie molekularer Stickstoff. Der grösste Teil dieser Gase befindet sich in der Atmosphäre, nur ein kleiner Teil wird im Ozean gelöst. Wie gut welches Gas im Meerwasser gelöst wird, hängt von der Ozeantemperatur ab. So lassen sich aus dem sich wandelnden Verhältnis dieser Gase in den Eisproben die vergangenen mittleren Ozeantemperaturen rekonstruieren.
«Voraussetzung für dieses Verfahren sind hochpräzise Messungen mit einem dynamischen Massenspektrometer», betont Hubertus Fischer, «die durch den grossen Einsatz mehrerer Doktoranden und PostDocs, die an der Publikation beteiligt sind, möglich wurden». Ebenfalls entscheidend sind Aufbereitungs- und Messmethoden, die im Rahmen des vom Europäischen Forschungsrats (ERC) geförderten Projekts MATRICs in Bern entwickelt wurden. Die vergangenen Ozeantemperaturen werden in Bern auf 0,4 °C genau bestimmt. Diese Präzision erlaubt es, das klimatische Auf und Ab der Vergangenheit nachzuzeichnen, zumal der Unterschied der mittleren Ozeantemperatur zwischen Eiszeit und Warmphasen in den vergangen 700'000 Jahren rund 3 °C betrug. Neben dem Labor in Bern führt bisher weltweit nur das Scripps Institut für Ozeanographie in San Diego, USA, mit dem die Berner Forschenden eng zusammenarbeiten, solche Messungen durch.